LSBTI in Tunesien: Land der Widersprüche Aktivistinnen berichten über aktuelle Entwicklungen in Tunesien

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Zehn Jahre ist es her, dass der sogenannte Arabische Frühling in Tunesien seinen Ausgang nahm. Das Land hat seit sieben Jahren eine neue Verfassung. Doch seit November 2020 gibt es immer wieder massive Proteste, an denen sich auch viele Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans* und intergeschlechtliche Personen (LSBTI) beteiligen. Die Polizei unterdrückt den Aufruhr, verhaftet viele Menschen, auch LSBTI. Berichte über Willkür, Gewalt und Unterdrückung der Zivilgesellschaft häufen sich. Was ist los im Land? 

Darüber sprach am Donnerstagabend, 15. April, Guido Schäfer von der Hirschfeld-Eddy-Stiftung (HES) mit zwei Aktivistinnen aus Tunis, die für unsere Partnerorganisationen Mawjoudin (wir existieren) und Damj (Inklusion) aktiv sind. Rund 40 Personen nahmen an dem online Talk teil.

Syrine Boukadida (Mawjoudin) lehnt den Begriff Arabischer Frühling ab, denn die Situation in den verschiedenen Ländern ist völlig unterschiedlich. Sie spricht vielmehr von einem Prozess, der lange vor 2011 einsetzte und noch immer anhält. „Dieser Kampf für Gerechtigkeit und Menschenrechte bescherte den Menschen mehr Rechte und Menschenrechtsverteidiger*innen und ihren Kämpfen mehr Sichtbarkeit“, so Syrine. Heute würden sie auch von der Regierung angehört, die Situation sei offener als vor 2011. Die Politik aber, so Syrine, scheine hinter diesem Prozess zurückzubleiben, während die Bürgerrechtsbewegung weiter anwachse.

Auch Asala Mdawkhy (Damj) hält eine Bezeichnung der Revolution als Arabischer Frühling oder Jasminrevolution für unpassend. Sie verweist auf die lange Vorgeschichte von sozialen Kämpfen für Menschenwürde und Menschenrechte, die 2011 zur Revolution führte,  weil die Unterdrückung der Menschen, die Verhaftungen und der wachsende Druck, das Land zu verlassen, das Fass zum Überlaufen gebracht hatten. Seither gebe es ein Auf und Ab, gerade auch für LSBTI, der Prozess des Wandels sei noch längst nicht abgeschlossen.

Die Situation für LSBTI hat sich verändert. Zwar gibt es im Strafgesetzbuch noch immer Artikel 230, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt und der auch angewendet wird, so Asala. Doch heute gibt es mehr Sichtbarkeit. Die Medien berichten über LSBTI, auch wenn die Berichte noch immer voller Vorurteile und Klischees seien. Und Homosexuellenfeindlichkeit sei noch immer sehr verbreitet.

Syrine Boukadida, Asala Mdawkhy, Guido Schäfer

NGOs wie Damj konnten 2011, viele Jahre nach ihrer Gründung und der Arbeit im Verborgenen, endlich registriert werden, was vorher undenkbar war. Willkürmaßnahmen und Misshandlungen auf den Polizeistationen könnten öffentlich gemacht und angeprangert werden. Im UPR-Verfahren 2017 versprach die Regierung die erniedrigenden, menschenrechtswidrigen Analuntersuchungen zum Nachweis homosexueller Handlungen abzustellen, doch noch immer finden Tests bei vom Staat bezahlten Ärzten statt. Man könne sie zwar verweigern, doch das habe negative Folgen.

Syrine spricht von einem Land der Widersprüche. Einerseits gebe es im dritten Jahr ein Queer Film Festival, andererseits werden Lesben und Schwule verfolgt und ins Gefängnis geworfen. Politik und Parlament hinken der Entwicklung hinterher, so Syrine. Als ein Justizminister vor einigen Jahren öffentlich über die Abschaffung von Artikel 230 nachdachte, war er ein paar Tage später sein Amt los. „Die Situation im Land ist sehr angespannt, es gibt viel Armut, Arbeitslosigkeit und Probleme. Und dann kommen wir und fordern dies und jenes und kriegen dann gesagt, wir hätten nicht das Ganze im Blick“, so Syrine. Heute sei der Grad der Mobilisierung ein ganz anderer als früher. Es gebe NGOs und Anwälte, die sich für die Rechte von LSBTI einsetzen, was früher undenkbar war. Es gebe einige gute Gesetzestexte und Zugang zur Justiz, auch wenn noch längst nicht alles perfekt sei. Zwar seien die Analuntersuchungen illegal, doch wenn man diese ablehne, werde dies als Schuldeingeständnis gewertet. Mawjoudin setze sich für die Abschaffung der Analtests ein, selbst die Ärzteschaft lehne sie ab, aber ein Arzt habe ihr mal gesagt, wenn zwei Polizisten mit einer verhafteten Person in seiner Praxis auftauchten, dann bleibe ihm nicht viel mehr übrig, als den Test durchzuführen.

Die andauernden Proteste, die im November begannen, entzündeten sich laut Syrine an einem Gesetzentwurf zum Schutz der Polizei. Kritik der Zivilgesellschaft am repressiven Agieren der Polizeikräfte solle damit unterbunden werden. Sogar deren Familienangehörige seien einbezogen und sollten vor Beleidigungen und Kritiker*innen geschützt werden. Der Gesetzentwurf wurde im Parlament diskutiert, und die Proteste auf den Straßen wurden von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Selbst im Parlament kam es zu Übergriffen gegen einige weibliche Abgeordnete, die Kritik übten. Letztlich wurde die Entscheidung über den Gesetzentwurf auf unbestimmte Zeit vertagt.

Viele LSBTI nahmen an den Demos teil, „sie waren sehr sichtbar, hatten Regenbogenflaggen dabei, wurden zur Zielscheibe“, so Syrine. Die Polizei filmte und postete die Aufnahmen in den sozialen Medien, veröffentlichte Fotos mit Namen von Demonstrierenden und rief dazu auf, gegen sie vorzugehen.

Asala ergänzt, die queere Community könne nicht getrennt von der Gesellschaft betrachtet werden. Sie reihe sich ein in die Protestbewegung. Die Medien behaupteten, die LSBTI-Demonstrierenden seien kein Tunesier*innen, sondern vom Ausland gesteuert und bezahlt. Das Gesetz zum Schutz der Polizei werde missbräuchlich und als Vorwand gegen jegliche Kritik angewandt: „Sie wissen, wie sie dich provozieren können, und der einzige Beweis ist dann die Aussage eines Polizisten, die gegen dich verwendet wird.“

Im Januar kam es erneut zu Protesten wegen der wirtschaftlichen Situation, der Ausgangssperre und anderer Covid-Regelungen, und das, obwohl die Regierung Demonstrationen zum zehnjährigen Jubiläum der Revolution verboten hatte. Die Polizei griff erneut hart durch, Tausende wurden verhaftet.

Die zivilgesellschaftlichen Organisationen seien in all diesen Monaten sehr präsent und aktiv gewesen, hätten Druck ausgeübt und Überzeugungsarbeit geleistet, so Syrine. So wurde im Parlament über die Verhaftungen gesprochen, Forderungen nach Freilassung wurden laut.

Natürlich gab es auch Unterstützung durch westliche Botschaften, aber darin sieht Syrine ein zweischneidiges Schwert: „Da ist auch immer viel Heuchelei im Spiel, es geht um Politik. Auf der einen Seite unterstützen sie Menschenrechtsprojekte, auf der anderen trainieren sie unsere Polizei und unterstützen die Regierung.“

Mawjoudin will LSBTI in Tunesien einen sicheren Raum bieten. Zudem führen die Kolleg*innen, auch mit Unterstützung der HES und des Auswärtigen Amtes, ein Queer Filmfestival durch. Ein weiteres Projekt widmet sich queeren Geflüchteten aus Subsahara-Afrika, die in Tunesien stranden. Mawjoudin führe Workshops zur Advocacy-Arbeit und Studien zur gesellschaftlichen Situation von LSBTI in Tunesien durch.

Damj (Inklusion) bietet Rechtsberatung an und verfügt über ein Netzwerk von Anwält*innen im Land. Auch dokumentieren die Kolleg*innen Fälle von Polizeigewalt und Hassrede im Parlament, zeigen diese an. Asala erklärt, dass die Bearbeitung dieser Anzeigen sehr lange dauern kann und manchmal zu keinerlei Konsequenzen führt. Abgeordnete sind durch ihre Immunität geschützt. Weitere Angebote von Damj sind die psychosoziale und medizinische Hilfe, Workshops zu Capacity Building, Empowerment sowie – ganz wesentlich – die Vertretung der Interessen von LSBTI und entsprechende Lobbyarbeit.

Über allem steht das Ziel der Akzeptanz und Integration von LSBTI in die Gesellschaft. Ja, für diese Arbeit gebe es Hilfe aus dem Ausland, aber es fehle auch an konkreter praktischer Hilfe, etwa bei der Visaerteilung und Aufnahme von LSBTI, die das Land verlassen müssen. Zudem müssten die tunesischen Organisationen bereits bei der Projektgenese eingebunden werden, nicht erst dann, wenn es darum gehe, ein Projekt durchzuführen.

Syrine weiß, dass es einen langen Atem braucht, dass Wandel nicht von heute auf morgen stattfindet, dass es noch sehr viel zu tun gibt. Sie wünscht sich von der Zukunft nicht nur die Entkriminalisierung und Streichung von Artikel 230, sondern etwas, was es innerhalb der EU bereits gibt: Freizügigkeit und freie Wahl des Wohnortes, und das nicht nur, wenn man von der Polizei gejagt werde.

Für Asala ist die Streichung von Artikel 230 Voraussetzung für den Abbau von Diskriminierung und Aggressionen gegen LSBTI. Sie ist nicht allzu optimistisch was die Zukunft angeht, sagt aber selbstbewusst: „Unser Kampf muss weitergehen.“

Klaus Jetz
Hirschfeld-Eddy-Stiftung

 

Links und Hintergrundinformationen:

Der Online-Talk fand im Rahmen des Projekts der Hirschfeld-Eddy-Stiftung “LGBTIQ-Menschenrechtsverteidiger*innen” statt.

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