Diverse Familien und UN-Menschenrechtsrat
Side Event zu Familie und Religion beim UN-Menschenrechtsrat
Wie können diverse Familien während und nach der Covid-19 Pandemie besser geschützt werden? Wer bestimmt was eine Familie ist und (wie) wird Religion dafür instrumentalisiert? Welche Verpflichtungen haben UN-Mitgliedsstaaten diversen Familien gegenüber? Dies sind nur einige Fragen, die zivilgesellschaftliche Organisationen bei einem Side-Event des UN-Menschenrechtsrats diskutierten.
„Unser Ziel ist es, die Vielfalt von Familien sichtbarer zu machen und Erfahrungen und Realitäten von Regenbogenfamilien in unterschiedlichen regionalen, kulturellen und religiösen Kontexten darzustellen“, betont Maria von Känel, Gründerin und Vorstandsangehörige des globalen Netzwerks für Familiendiversität IFED, International Family Equality Day.
“Diverse Familien- und Gemeinschaftsmodelle waren schon immer Teil der Menschheitsgeschichte. Das UNO-System, einschließlich der Staaten, hat die Verantwortung, die Menschenrechte aller Familienmitglieder ohne irgendeinen Unterschied weiter zu fördern. Dies ist in Krisenzeiten, in denen Ungleichheiten hervorgehoben und verstärkt werden, von besonderer Bedeutung“, ergänzt Simon Petitjean vom Global Interfaith Network.
UN-Menschenrechtsrat mit Einschränkungen
Teilnehmende Side Event Copyright: Global interfaith Network & International Family Equality Day
Die beiden Aktivist*innen haben gemeinsam mit COC Netherlands den Side-Event über „Die Anerkennung und den Respekt von diversen Familien in Zeiten der globalen Pandemie“ beim 44. UN-Menschenrechtsrat Ende Juni 2020 organisiert. Side-Events bieten die Möglichkeit, bestimmte thematische Aspekte und Interessen zu vertiefen und bei den UN-Delegationen an die Umsetzung bestimmter Politiken zu appellieren. Unterstützung fand die Veranstaltung von der südafrikanischen und Schweizer Vertretung bei der UN.
Aufgrund der Covid-19 Pandemie gab es beim 44. UN-Menschenrechtsrat zahlreiche Einschränkungen. Beispielsweise durften die Delegationen der Länder nur jeweils mit einer Person an den Sitzungen teilnehmen und die ansonsten zahlreichen Veranstaltungen, die den Rat vor Ort begleiten und häufig von der Zivilgesellschaft organisiert werden — sogenannte Side-Events — mussten im virtuellen Raum stattfinden.
Familienvielfalt stärken
„Alle Formen von Familie müssen geschützt werden“, fordert Nelia Barnard, die stellvertretende Botschafterin Südafrikas bei der UN, in ihrem Eingangsstatement. Dies bestätigt auch Anita Bhatia, stellvertretende Direktorin von UN Women: „Gesetze und Politiken in Bezug auf Covid-19 müssen auf der Realität der Familien von heute basieren.“ Sie appelliert an die Regierenden soziale Schutzprogramme anzupassen, sodass sie auch für besonders gefährdete Menschen greifen, wie LGBTIQ* Menschen, die die Quarantäne häufig mit feindlich gesinnten Familien verbringen müssen.
Mit diesem Side-Event wollen die Organisator*innen veranschaulichen, wie sehr eine traditionell-konservative Definition von Familie problematisch ist, sowie die Koalition von Staaten, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Partner*innen für eine breite Unterstützung diverser Familien stärken. Mit insgesamt zehn Redner*innen ist das Programm sehr vielfältig; unter den mehr als 80 angemeldeten Teilnehmenden des Online-Side-Events befinden sich mehr als zehn Ländervertretungen bei der UN.
„Daten zeigen, dass wir existieren“
Teilnehmende Side Event Copyright: Global interfaith Network & International Family Equality Day
Ymania Brown, Co-Vorsitzende bei ILGA World fordert anti-LGBT gesinnte Menschen auf, Religion nicht dazu zu missbrauchen um ihre Ablehnung gegen LGBTIQ* Menschen und einer nicht-binären Geschlechterordnung zu rechtfertigen. „Ihr akzeptiert alles, was von Gott geschaffen wurde, aber ihr weigert euch, das dazwischen Geschaffene zu akzeptieren.“ Als Transfrau, die mit ihren zwei adoptierten Söhnen — „sie kamen nicht aus meinem Schoß, aber aus meiner Seele“ — in Australien lebt, werde sie der Ablehnung diverser Familienformen heftig entgegentreten und sich weiterhin für die Rechte diverser Familien einsetzen. Die UN-Mitgliedsstaaten sollten es ihr gleichtun.
Benny Ondongo aus Kenia, selbst Aktivist und non-binäres Elternteil, berichtet vom Leben als Regenbogenfamilie in Afrika: „Das Leben ist ein täglicher Kampf, wir sind verletzlich und viele leben in Angst.“ Kenia ist laut des letzten ILGA World Berichts eines der 70 Länder der Welt, die Homosexualität weiterhin kriminalisieren. Der Aktivist evoziert das Konzept „Ubunto“, ich bin — daher sind wir, als afrikanisches Selbstverständnis und Zeichen der gegenseitigen Unterstützung. Ondongo wünscht sich insgesamt mehr Forschung und Dokumentation zum Thema diverse Familien, Familien mit LGBTIQ*-Eltern oder Regenbogenfamilien. „Denn Daten zeigen den Staaten, dass wir existieren.“
Hauptaugenmerk auf die Kinder
Die Theologin Nontando Hadebe vom Circle of Concerned African women Theologians fordert dazu auf, den theologischen Diskurs über Familie und LGBTIQ*-Fragen neu zu gestalten. Im Circle stellen Frauen aller Glaubensrichtungen patriarchale Interpretationen heiliger Texte in Frage, die die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und männliche Vorherrschaft fördern. „Wir fordern nicht nur heraus, sondern produzieren auch befreiende alternative Lesarten heiliger Texte, die die Würde und Gleichberechtigung von Frauen und LGBTIQ* bekräftigen.“ Damit werden Stimmen der Unterdrückten zurückgewonnen, die von den dominanten Theologien zum Schweigen gebracht wurden.
Dominic Johnson vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF macht darauf aufmerksam, dass Sozialgesetzgebungen häufig auf einem traditionellen Verständnis von Familie beruhen und dadurch bereits diverse Familien ausschließe. „Damit verstoßen Länder gegen die UN-Kinderrechtskonvention, die das Recht der Kinder auf Schutz deren Rechte festlegt, unabhängig von der Form ihrer Familie“, so Johnson und er betont: „Regierungen haben die Pflicht, Familien jeder Form zu schützen.“ Er fordert dazu auf, die Debatte darüber, was eine Familie sei, endlich zu beenden und den Fokus vielmehr auf den Schutz der Kinder zu legen.
Hasserfüllte Narrative dekonstruieren
Victor Madrigal BorlozCopyright: Global interfaith Network & International Family Equality Day
Einer der letzten Redner der 90minütigen Veranstaltung ist Victor Madrigal-Borloz. Der unabhängige Experte der UN für den Schutz vor Gewalt und Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität (SOGI) führt aus, dass Familie in unterschiedlichen Menschenrechtsdokumenten wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) oder im internationalen Pakt über bürgerliche und zivile Rechte (englisch International Covenant on Civil and Political Rights, ICCPR) als „wesentlich und natürlich“ gesehen werde. Zugleich gebe es Vorbehalte, „dass das, wonach wir uns sehnen, vielleicht nicht natürlich sei“. Er ruft die Aktivist*innen dazu auf, dem entgegenzutreten und zu zeigen, dass eine Sehnsucht nach Familie menschlich sei und anerkannt werden müsse. Zugleich sollten die Staaten bei der Definition von Familie nicht bei Diskriminierung starten und ebenso wenig sollte Religion für stigmatisierende und zutiefst gewalttätige Erzählungen missbraucht werden. Vielmehr müssten hasserfüllte Narrative dekonstruiert werden. Diese seien schließlich unter internationaler Menschenrechtsgesetzgebung nicht geschützt.
Eine Nachfolgeveranstaltung zum Thema Religion in Zeiten der Covid-19-Pandemie ist bereits für den 45. Menschenrechtsrat im September 2020 geplant.
Bericht: Caroline Ausserer*
*Caroline Ausserer ist Journalistin, Diversity Trainerin und Moderatorin. Sie hat das Side Event moderiert. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist sie aktivistisch für LGBTIQ* Rechte tätig, u.a. im Vorstand des Europäischen Dachverbandes für Regenbogenfamilien NELFA (Network of European LGBTIQ* Families Associations) und aktuell im Vorstand von KomBi/QUEERFORMAT – Fachstelle queere Bildung. Mehr zu ihr: www.presspectives.net
Alle Artikel zum Projekt „Internationale Menschenrechtsdebatten vermitteln - Information und Partizipation aus LSBTI-Perspektive” finden Sie auch im LSVD-Blog unter dem Tag » HR 2020.
Ein Textbeitrag im Rahmen des Projekts „Internationale Menschenrechtsdebatten nach Deutschland vermitteln – Information und Partizipation“:
Info-Box: UN-Menschenrechtsrat
Der UN-Menschenrechtsrat (United Nations Human Rights Council, kurz: UNHRC) ist ein Nebenorgan der UN-Generalversammlung und beschäftigt sich mit der Einhaltung der Menschenrechte weltweit.
Die Mitglieder werden mit absoluter Mehrheit der Generalversammlung für die Dauer von bis zu drei Jahren gewählt, für einen Staat sind höchstens zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Amtszeiten erlaubt. Insgesamt besteht der Rat aus 47 Mitgliedern, die nach einem regionalen Verteilerschlüssel aus den verschiedenen Regionalgruppen stammen. Aus Europa sind aktuell bis 2022 Deutschland, die Niederlande und Polen vertreten.
Der Menschenrechtsrat hält nicht weniger als drei reguläre Sitzungen pro Jahr ab, die insgesamt mindestens zehn Wochen dauern. Sie finden im März (vier Wochen), Juni (drei Wochen) und September (drei Wochen) statt. Die Tagungen des Rates werden live per Webcam übertragen.
Die Zivilgesellschaft kann an den Sitzungen aktiv teilnehmen, wenn sie Beraterstatus hat, dieser muss beim Sozial- und Wirtschaftsausschuss ECOSOC beantragt werden. Infos dazu » hier
Gegenwärtig haben 4.045 NGOs beratenden Status beim ECOSOC. Der LSVD ist eine von ihnen. Mehr Infos zur NGO-Beteiligung beim UN-Menschenrechtsrat » hier
Videos
Source: GIN SSOGIE